Seminar: IDC-10 F10 - F19
Psychische und Verhaltensstörungen durch Psychotrope Substanzen

Psychotrope Substanzen
Unter psychotropen Substanzen versteht man natürliche, synthetische oder chemisch aufbereitete Substanzen, welche zentralnervös auf den Organismus eines Individuums einwirken und dessen Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln beeinflussen.
Psychotrope Substanzen können unterschieden werden bezüglich ihrer Wirkungsdimensionen, der Verschiedenartigkeit der Symptome wenn es zu einer Intoxikation kommt oder auch hinsichtlich der Schnelligkeit, mit der es zu einer Abhängigkeitsentwicklung kommt.
Die beiden Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV-TR unterscheiden bei allen psychotropen Substanzen zwischen dem Substanzmissbrauch und der Substanzabhängigkeit.
Von einem Substanzmissbrauch spricht man dann, wenn innerhalb des letzten Jahres mindestens eines oder mehrere der folgenden Merkmale aufgetreten sind:
-
Beeinträchtigungen: durch den Gebrauch der Substanz kommt es zu Beeinträchtigungen der Verpflichtungen zu Hause, in der Schule oder am Arbeitsplatz
-
körperliche Gefährdung: die Substanz wird wiederholt in Situationen eingenommen, in denen die Einnahme (in welcher Form auch immer) eine körperliche Gefährdung darstellt, z.B. in Verkehrssituationen
-
Rechtsverstöße: es kommt wiederholt zu Problemen mit dem Gesetz, z.B. durch Verhaftungen aufgrund Trunkenheit am Steuer
-
fortgesetzter Gebrauch trotz wiederholter sozialer oder interpersoneller Probleme: z.B. Familienstreit
​
Von einer Substanzabhängigkeit spricht man, wenn innerhalb des letzten Jahres mindestens 3 der folgenden Merkmale aufgetreten sind:
-
Toleranzentwicklung: welche definiert wird durch das Verlangen nach einer ausgeprägten Dosissteigerung, um den gewünschten Effekt herbeizuführen oder durch eine deutlich verminderte Wirkung bei wiederholter Einnahme derselben Dosis;
-
Entzugssymptome;
-
wenn die Substanz in größeren Mengen oder länger eingenommen wird, als es die Person eigentlich beabsichtigt hatte;
-
wenn der Betroffene erfolglos versucht bzw. den Wunsch hat, den Substanzgebrauch zu kontrollieren oder zu reduzieren;
-
wenn die Beschaffung und Einnahme der Substanz viel Zeit verlangt und viel Zeit benötigt wird, sich von den Nachwirkungen der Substanz zu erholen;
-
wenn die Person wichtige berufliche, soziale oder Freizeitaktivitäten einschränkt oder vollkommen aufgibt aufgrund des Substanzmissbrauchs;
-
fortgesetzter Gebrauch trotz des Wissens um wiederkehrende oder anhaltende psychische, körperliche oder soziale Probleme, die durch den Substanzmissbrauch hervorgerufen werden.
-
​
Die folgenden vierten Stellen sind bei den Kategorien F10-F19 zu benutzen:
.0 Akute Intoxikation [akuter Rausch]
Ein Zustandsbild nach Aufnahme einer psychotropen Substanz mit Störungen von Bewusstseinslage, kognitiven Fähigkeiten, Wahrnehmung, Affekt und Verhalten oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen. Die Störungen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den akuten pharmakologischen Wirkungen der Substanz und nehmen bis zur vollständigen Wiederherstellung mit der Zeit ab, ausgenommen in den Fällen, bei denen Gewebeschäden oder andere Komplikationen aufgetreten sind. Komplikationen können ein Trauma, Aspiration von Erbrochenem, Delir, Koma, Krampfanfälle und andere medizinische Folgen sein. Die Art dieser Komplikationen hängt von den pharmakologischen Eigenschaften der Substanz und der Aufnahmeart ab.
-
Akuter Rausch bei Alkoholabhängigkeit.
-
Pathologischer Rausch
-
Rausch o.n.A. (ohne nähere Angabe)
-
Trance und Besessenheitszustände bei Intoxikation mit psychotropen Substanzen
-
"Horrortrip" (Angstreise) bei halluzinogenen Substanzen
Exkl.:
Intoxikation im Sinne einer Vergiftung (T36-T50)
.1 Schädlicher Gebrauch
Konsum psychotroper Substanzen, der zu Gesundheitsschädigung führt. Diese kann als körperliche Störung auftreten, etwa in Form einer Hepatitis nach Selbstinjektion der Substanz oder als psychische Störung z.B. als depressive Episode durch massiven Alkoholkonsum.
Missbrauch psychotroper Substanzen
.2 Abhängigkeitssyndrom
Eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom.
Das Abhängigkeitssyndrom kann sich auf einen einzelnen Stoff beziehen (z.B. Tabak, Alkohol oder Diazepam), auf eine Substanzgruppe (z.B. opiatähnliche Substanzen), oder auch auf ein weites Spektrum pharmakologisch unterschiedlicher Substanzen.
-
Chronischer Alkoholismus
-
Dipsomanie
-
Nicht näher bezeichnete Drogensucht
.3 Entzugssyndrom
Es handelt sich um eine Gruppe von Symptomen unterschiedlicher Zusammensetzung und Schwere nach absolutem oder relativem Entzug einer psychotropen Substanz, die anhaltend konsumiert worden ist. Beginn und Verlauf des Entzugssyndroms sind zeitlich begrenzt und abhängig von der Substanzart und der Dosis, die unmittelbar vor der Beendigung oder Reduktion des Konsums verwendet worden ist. Das Entzugssyndrom kann durch symptomatische Krampfanfälle kompliziert werden.
.4 Entzugssyndrom mit Delir
Ein Zustandsbild, bei dem das Entzugssyndrom (siehe vierte Stelle .3) durch ein Delir, (siehe Kriterien für F05.-) kompliziert wird. Symptomatische Krampfanfälle können ebenfalls auftreten. Wenn organische Faktoren eine beträchtliche Rolle in der Ätiologie spielen, sollte das Zustandsbild unter F05.8 klassifiziert werden.
-
Delirium tremens (alkoholbedingt)
​
.5 Psychotische Störung
Eine Gruppe psychotischer Phänomene, die während oder nach dem Substanzgebrauch auftreten, aber nicht durch eine akute Intoxikation erklärt werden können und auch nicht Teil eines Entzugssyndroms sind. Die Störung ist durch Halluzinationen (typischerweise akustische, oft aber auf mehr als einem Sinnesgebiet), Wahrnehmungsstörungen, Wahnideen (häufig paranoide Gedanken oder Verfolgungsideen), psychomotorische Störungen (Erregung oder Stupor) sowie abnorme Affekte gekennzeichnet, die von intensiver Angst bis zur Ekstase reichen können. Das Sensorium ist üblicherweise klar, jedoch kann das Bewusstsein bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt sein, wobei jedoch keine ausgeprägte Verwirrtheit auftritt.
-
Alkoholhalluzinose
-
Alkoholische Paranoia
-
Alkoholischer Eifersuchtswahn
-
Alkoholpsychose o.n.A. (ohne nähere Angabe)
​
Exkl.:
Durch Alkohol oder psychoaktive Substanzen bedingter Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung (F10-F19, vierte Stelle .7)
​
Handouts
​
​
​
​
Arbeitsblätter
​
​
​
​
Verhaltensstörungen
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol
Grundwissen Alkoholabhängigkeit ICD-10-Kriterien
​
F10.0
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Akute Intoxikation [akuter Rausch]
F10.1
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Schädlicher Gebrauch
F10.2
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Abhängigkeitssyndrom
F10.3
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Entzugssyndrom
F10.4
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Entzugssyndrom mit Delir
F10.5
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Psychotische Störung
F10.6
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Amnestisches Syndrom
F10.7
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung
F10.8
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Sonstige psychische und Verhaltensstörungen
F10.9
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol : Nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörung
-
Toleranzentwicklung
-
Kontrollverlust
-
körperliches Entzugssyndrom
-
starkes Verlangen nach Substanzkonsum (craving)
-
Vernachlässigung anderer Interessen und Vergnügen
-
anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen
-
psychische Gewöhnung: Aufsuchen der positiv erlebten Effekte der Substanz und des entsprechenden sozialen Umfelds
-
körperliche Gewöhnung: Toleranzsteigerung durch Enzyminduktion oder Empfindlichkeitsabnahme der Organe Dosissteigerung
-
psychische Abhängigkeit: craving und Kontrollverlust
-
physische Abhängigkeit: Entzugserscheinungen bei Abstinenzversuch (und Kontrollverlust)
Typen erhöhten Alkoholkonsums (Jellinek):
-
​Alpha-Typ = Konflikt-, Erleichterungstrinker
-
Beta-Typ = Gelegenheits-, Wochenend-, Verführungstrinker
-
Gamma-Typ = süchtiger Trinker (Abhängigkeit): Kontrollverlust, Abstinenzfähigkeit
- Phasen der Abhängigkeit:
-
präalkoholische Phase: Trinken um der Wirkung willen (Spannungsabbau, Erleichterung)
-
Prodromalphase: erste Erinnerungslücken, heimliches Trinken
-
kritische Phase: Kontrollverlust, häufige Räusche und/oder Abstinenzunfähigkeit, craving, soziale Komplikationen, ggf. Wesensänderung
-
chronische Phase: tagelange Räusche, Toleranzverlust, schwere körperliche
-
Abhängigkeit, patholog. Rausch, Alkoholpsychosen, Wesensänderung, Trinken von Alkoholersatzmitteln
5. Delta-Typ = Spiegel-, Gewohnheitstrinker: kein Kontrollverlust, Abstinenzunfähigkeit
("rauscharme Dauerimprägnierung mit Alkohol")
6. Epsilon-Typ = episodischer/ Quartalstrinker (Dipsomanie): oft bei affektiven Syndromen
-
Alpha-Trinker (Konflikttrinker, 5%)
-
Beta-Trinker (Gelegenheitstrinker, 5%)
-
Gamma-Trinker (süchtiger Trinker, 65%)
-
Delta-Trinker (Spiegeltrinker, 20%)
-
Epsilon-Trinker (Episodischer Trinker, 5%)
​​
Ätiologie der Alkoholabhängigkeit: multifaktoriell
1. genetische Faktoren
2. neurobiologische Faktoren: Belohnungssystem des Gehirns, GABA-A-Rezeptor
3. soziale und psychologische Faktoren:
-
Permissivkulturen,
-
psychosoziale Streßsituationen
-
Persönlichkeitseigenschaften und -störungen wie dissoziale Pk, hyperkinetische Störungen, sensation seeking (Zuckerman), novelty seeking vs. harm avoidance (Cloningers Typ 2 vs. Typ 1)
-
niedrige Frustrations- und Streßtoleranz
​​
Folgen der Alkoholabhängigkeit: multifaktoriell
1. neurologisch:
-
Anfälle
-
Wernicke-Korsakow-Sdr.
-
Atrophie (Groß- und Kleinhirn)
-
Polyneuropathie
-
Myopathie
​​
2. psychiatrisch:
-
Delir
-
Halluzinose
-
Wesensänderung
-
Korsakow-Sdr.
-
Demenz
​​
3. internistisch:
-
Magen-Darm-Trakt (Magenschleimhaut- Leber Bauchspeicheldrüsenentzündung, Leberzirrhose, Mangelernährung, B1-Mangel, Karzinome)
-
Herzmuskelerkrankung, Bluthochdruck
-
hormonell: Hodenatrophie, erniedrigtes Testosteron und erhöhtes Östrogen
-
Abwehrschwäche, Infektionskrankheiten (z.B. Tuberkulose)
​​
4. sozial:
-
Invalidität
-
Delikte
-
Suizidalität (1/4 Suizidversuche, 15 % Suizid)
-
soziale Komplikationen (in Beruf und Familie)
​​
Entzugssyndrom ohne und mit Delir:
Alkoholentzugs-Prädelir: psychische und körperliche Symptome
-
psych.: Unruhe, ängstl.-depressive Affekte, Schlaflosigkeit, craving, Konzentrationsstörung
-
phys.: Tremor, vegetative Stimulierung: Puls- und Blutdruckerhöhung, Schweißsekretion; gelegentlich Anfall
Alkoholentzugs-Delir: + Verwirrtheit, Bewusstseinsstörung, kognitive Störungen, Suggestibilität, Illusionen und v.a. lebhafte optische Halluzinationen, Wahneinfälle
-
Behandlung: intensivmedizin./psychiatrisch (u.a. mit Distraneurin oder Diazepam und ggf. Haloperidol);
-
unbehandelt in 20 % tödlich (v.a. Herz-Kreislaufversagen, Pneumonie)